19.09.2023 |
|
Fünf Kinder erzählen vom Kriegsbeginn |
|
|
Organisation: FBKO |
Heute die Geschichten von Jekaterina Kotelnikowa - Tatjana Pylowa - Wladislav Tarakanow - Ruslan Samoilenko - Nikita Prichodko
Jekaterina Kotelnikowa: Was ich in der Kriegszeit verstanden habe Es geschah Anfang August 2014. Ein Geschoss landete auf dem Markt, wo mein Vater arbeitete.
Es war ein schöner Tag, die Sonne schien, und die Vögel sangen fröhlich ihre Lieder. Und plötzlich auf einmal, es war um das 100fache schlimmer als Donner aus dem heiteren Himmel, explodierte ein Geschoss. Es war ein Wunder, dass mein Vater nicht getroffen wurde. Aber nebenan kamen einige Menschen ums Leben. Es war grauenhaft und fürchterlich. Keiner ahnte, dass der Tod ganz in der Nähe auf ihn lauert. Nach dieser Erkenntnis verließen wir die Stadt für zwei Monate.
Aber nichts hielt mich in fremder Umgebung fest. Als wir zurückkamen, wurde uns klar, dass wir nun endlich zu Hause, in unserer Heimatstadt waren.
Was war aber in unserer Abwesenheit mit der Heimatstadt nur passiert? Zerstörte Häuser ohne Fenster. Meine Heimatschule war zerbombt, und es war weder Eisenbahnlärm noch Lärm vom Maschinenbaubetrieb zu hören. Dafür hörten wir jede Nacht Bomben- und „Grad“-Explosionen. Beim Schlafengehen lauschte man in der Nacht und man konnte kaum einschlafen, dann jedoch nickte man erschöpft ein.
Mein Vater arbeitet nach wie vor auf demselben Markt. Meine Schwester studiert in Donezk. Wenn sie wegfahren, rege ich mich sehr auf und bekomme Angst. Was soll ich tun, wenn sie wegfahren, um ihre Aufgaben zu erfüllen, und dann nie zurückkommen? Ich bin bemüht, diese Gedanken zu verdrängen. Ich hoffe sehr darauf, dass der Krieg bald beendet wird, und ich bin mir sicher, dass das neue Jahr 2017 uns Frieden und Glück bringt.
Jekaterina Kotelnikowa, 11 Jahre alt, Schülerin der Klasse 6A
Die Geschichte von Tatjana Pylowa Ich heiße Tatjana Pylowa, ich lebe in der Stadt Jasinowataja. Im Jahre 2014 war ich Schülerin der Klasse 6A, Schule Nr.6. Einmal, als ich mit meinen Freunden während der Sommerferien auf der Straße spazieren ging, hörten wir zu unserer Überraschung das Sausen, dem eine starke Explosion folgte. Wir rannten sofort weinend und erschrocken nach Hause (es war gerade der Beginn der Bombenangriffe auf unsere Stadt). Als ich ganz schockiert zu Hause angelangt war, sah ich dort meine Mutter und meine Oma weinen. Mein Bruder war auch zu Hause.
Wir konnten nicht fliehen, weil wir kein Geld dafür übrighatten. Besonders lange habe ich geschluchzt, als meine Schule getroffen wurde. Ich war in dem Augenblick in der Küche und hörte das nächste Sausen, aber diesmal kam es zur Explosion in der Nähe von unserem Haus, und die Fenstergläser in meiner Klasse fielen hinaus. Ich weinte lange und war zu Tode erschrocken.
Sogar heute, wo nicht mehr so oft geschossen wird, habe ich meine weinenden Mitter und Oma vor den Augen, zerbombte Häuser und Schule, und ich höre immer wieder die Fenstergläser klirren. Wenn jetzt etwas auf den Boden fällt, laufe ich instinktiv in den Korridor. Als normales Kind bitte ich die Erwachsenen: „Macht doch Schluss damit! Ich habe ja keine Lust, auch weiterhin Angst zu haben, spazieren zu gehen, zur Schule zu gehen!“ Ich will doch einfach nichts als Frieden wie alle Kinder. Erwachsene, macht Schluss damit! Ich bin für den Frieden!
Wladislav Tarakanow erzählt Unsere ganze Familie wartete mit Ungeduld auf den 1.September 2014, es wurden Vorbereitungen auf das Schulfest an diesem Tag getroffen. Für die Schule war bereits alles besorgt: eine Schultasche, ein Schulanzug, Hefte, Kugelschreiber.
Aber es kam anders: das Schulfest, dieses fröhliche Ereignis, hat überhaupt nicht stattgefunden, denn unsere Stadt Jasinowataja wurde auf einmal stark beschossen. Die Geschosse sausten durch die Luft, die Erde dröhnte, die Häuser wackelten, das Fensterglas fiel auf den Boden. Häuser und Straßen waren auf einmal menschenleer.
Viele Menschen verließen später die Stadt. Meine Familie aber, meine Oma, mein Opa, meine Schwester und ich stiegen in den Keller herunter. Meine Mutter war vorher gestorben, und wir wohnen deshalb bei unseren Großeltern. Ich fühlte mich beleidigt und ich war sehr entsetzt. Ich machte mir Sorgen nicht nur um mich, sondern auch um meine lieben Nächsten und Freunde.
Als wir den Keller verließen, konnte ich die Stadt nicht wiedererkennen. Wir hatten keinen Strom, kein Wasser, kein Erdgas, deshalb kochten wir unser Essen am Lagerfeuer. In unserem Haus waren die Fenster nun ohne Glas, das Nachbarhaus hatte ein großes Loch, und überall verbreitete sich Brandgeruch.
Als wir zur Schule gingen, fiel uns sofort auf, dass unsere Schule beim Beschuss getroffen wurde. Ein Schulgebäudeflügel war stark beschädigt: die Fenster waren ohne Glas, die Klassenräume und der Speiseraum waren beschädigt. Der Unterricht begann jedoch, trotz aller Schwierigkeiten. Das Leben muss doch weitergehen. Ich bin bereits Schüler der Klasse 3B Schule Nr.6, Stadt Jasinowataja. Die Stadt wird auch weiterhin beschossen, aber wir lernen und treiben Sport. Zu Hause liegt bei uns immer eine große Tasche mit unseren Dokumenten und mit warmen Sachen bereit für den Fall, dass es zu starkem Beschuss kommt. Aber wir hoffen darauf, endlich doch unter friedlichem Himmel zu leben! Alle Menschen der Welt, die für den Frieden eintreten, stehen Sie bitte auf und sehen Sie zu, wie die ukrainische Regierung für die Kinder und die älteren Menschen aus dem Donbass sorgt!
Wladislav Tarakanow
Die Geschichte von Ruslan Samoilenko Anfang August 2014 hat meine Mutter für mich einen Ferienplatz im Kinderlager „Burevestnik“ erhalten. Ich blieb telefonisch in Kontakt mit meiner Familie. Am Tage, wo all das begann, und zwar am 16.August desselben Jahres, erwachte ich wie immer, es gab kein Zeichen einer Katastrophe. Seit dem Vormittag wollte ich mit meinen Eltern sprechen, aber ich konnte sie telefonisch nicht erreichen. Ich beschloss, etwas später zurückzurufen. Zunächst habe ich darauf nicht geachtet, alles ging am Tage seinen Gang, aber ungefähr um 16.00 bzw. 17.00 war die lustige Zeit schon vorbei.
Als mein Freund vom Spaziergang zurückkam, hörte ich von ihm eine solche Nachricht, die mich nahezu gelähmt hätte: ich erfuhr von den Kampfhandlungen in Jasinowataja. Als Beweis zeigte er mir einige Fotos der zerstörten Stadt. Ich geriet in Panik und versuchte immer wieder, die Nummern meiner Eltern zu wählen, aber das Resultat blieb aus. Ganz verzweifelt rief ich alle an, deren Telefonnummern im Telefonbuch standen. Als ich so gut wie keine Hoffnung mehr hatte, erfuhr ich von meinen entfernten Verwandten, dass es meinen Eltern doch gut ging. Während meines weiteren Aufenthalts im Kinderlager erfuhr ich die Nachrichten aus dem Internet.
Als meine Aufenthaltsdauer im Kinderlager vorbei war, holten mich meine Eltern ab, und seitdem wohne ich in meiner Heimatstadt.
Ruslan Samoilenko, Klasse 9A
Nikita Prichodko und der Kriegsbeginn Am 29.Juli 2014 auf dem Hauptbahnhof der Stadt Jasinowataja herrschte ein reges Treiben. Nach dem Beschuss der Stadt am Vortag herrschten Angst und Panik in den Wartesälen. Menschen mit blitzschnell gepackten Reisetaschen, Kleinkinder, die Verwandten, die die Abreisenden zum Bahnhof bringen wollten – all das machte den betäubenden Lärm, der jedoch die Kanonade von draußen (es wurde die Nachbarstadt Awdejewka beschossen) nicht verstummen ließ.
Wir standen in der Menschenmenge und warteten auf den Zug nach Charkow. Warum beschlossen wurde, ausgerechnet in dieser Richtung zu fahren, konnte keiner deutlich erklären: die entsprechenden Fahrkarten waren zu kaufen, und es herrschte Verwirrung und Ratlosigkeit, denn keiner konnte verstehen, was sich da alles abspielte. Wir warteten auf den Zug, aber der kam immer noch nicht. Es fuhren auch keine Züge in andere Richtungen ein: wegen beschädigter Gleise geriet der Fahrplan für ungewisse Zeit außer Kontrolle. Hitze und Erwartung machten die Menschen todmüde.
Plötzlich erschien ein Bahnhofangestellter inmitten des Wartesaals und erklärte, es bestehe eine akute Beschussgefahr und man müsse nun in die Kellerräume heruntersteigen. Wir griffen nach unseren Siebensachen und rannten mit der Menschenmenge zum Versteck.
Es vergingen einige Stunden, aber es änderte nichts an der Sache: der Eisenbahnverkehr funktionierte immer noch nicht. Es wurde letzten Endes die Entscheidung getroffen, die Stadt mit dem Auto zu verlassen. Wir standen lange Schlange auf der Tankstelle, kauften auf dem Bahnhof ein Heft und einen Marker sowie ein Papierklebeband und klebten auf das Auto einige Schilder mit der Aufschrift „Kinder“.
Endlich fuhren wir los. Am Fenster sausten an uns rauchende Felder, Einzelpanzer, aufgeregte Militärangehörige und eine gesprengte Eisenbahnbrücke. Keiner glaubte daran, dass es kein Alptraum, sondern Wirklichkeit war.
Am 29.September, genau zwei Monate später, kamen wir jedoch zurück. Wir konnten unsere Heimatstadt gegen keine andere Stadt eintauschen.
Nikita Prichodko

|
|
Spenden
Spendenmöglichkeit
Deutsche Bankverbindung auf Anfrage
Сбербанк 2202 2053 0532 2221
Aktuelles
|